Kultiviertes Fleisch: Chance oder Risiko für die deutsche Lebensmittelindustrie?

Wie die Digitalisierung oder die Künstliche Intelligenz die Wirtschaft ganz allgemein rasant verändern, wandelt sich auch die Lebensmittelindustrie durch neue Verfahren und Techniken dramatisch. Ein Blick auf die jüngsten Ereignisse zeigt, dass die europäische Lebensmittelindustrie, insbesondere der Fleischsektor, vor einer Transformation steht.

Kultiviertes Fleisch oder auch In-Vitro-Fleisch ist ein durch Zellkulturen gewonnenes Fleischprodukt, welches auf molekularer Ebene identisch mit herkömmlichem Fleisch ist.  Hierzu werden Proben von Stammzellen einer bestimmten Tierart in einer kontrollierten Umgebung, - z. B. in einem Fermenter - mittels Nährmedium vermehrt. Die entstandenen Muskelfasern oder Fette werden in weiteren Schritten zum fertigen Produkt verarbeitet. Man spricht auch von zellulärer Landwirtschaft.
Das israelische Unternehmen Aleph Farms könnte dabei als Initiator dieses Transformationsprozesses fungieren. Das Unternehmen hat die erste Zulassung für kultiviertes Fleisch in der Schweiz beantragt. Dies könnte den europäischen Fleischmarkt langfristig durcheinanderwirbeln. In Zusammenarbeit mit Migros wird ihr Produkt "Aleph Cut", bei erfolgreicher Zulassung in voraussichtlich einem Jahr, den kulinarischen Horizont der Schweizer und in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit auch den der Europäer erweitern.

Warum betrifft uns das in Deutschland? Deutschland gilt international bereits heute als wichtigster Zukunftsmarkt für alternative Proteine, insbesondere für Plant-Based-Produkte. Eine erfolgreiche Einführung in der Schweiz kann dazu führen, dass das Interesse für kultiviertes Fleisch deutlich ansteigt. Dies hätte eine Signalwirkung für den europäischen Markt. Das Risiko für die deutsche Agrar- und Ernährungswirtschaft besteht darin, dass sie anderen Marktteilnehmern im internationalen Kontext das Spielfeld überlässt und am Ende nur noch als Zuschauer agieren und nicht als Innovationsführer das Spiel gestalten kann.
Das Interesse an alternativen Proteinen ist in Deutschland bei Unternehmen sowie Konsumenten groß, aber es fehlt noch an unterstützenden Rahmenbedingungen, insbesondere mit Blick auf die zelluläre Landwirtschaft. Hier können wir von den Niederlanden lernen, wo die Regierung Maßnahmen ergriffen hat, um den Verzehr von kultiviertem Fleisch und Fisch zu regeln und ein ganzes Ökosystem für zelluläre Landwirtschaft mit 60 Millionen € fördert.

Die Vorzüge dieser Transformation für die deutsche Lebensmittelwirtschaft liegen auf der Hand: Stärkung ihrer Position auf dem Weltmarkt, Beitrag zur Nachhaltigkeit, Förderung von Innovation und Forschung und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Darüber hinaus könnten zusätzliche Sektoren wie Biotechnologie, Lebensmittelzusatzstoffe und Maschinenbau davon profitieren. Die Herausforderung ist groß, aber es lohnt sich, sie anzunehmen. Denn dann kann Deutschland eine führende Rolle in der nächsten großen Ernährungsrevolution spielen. Wir sollten daher bereit sein, mitzuspielen.

Herzlichst Ihr
Hans-Henning Schuur